Ein Diskussionsbeitrag von Halina Bendkowski
Bei unserem queeren Diskussionsmarathon „Sexualpolitik kontrovers“ am Samstag im PS120 konnte Halina Bendkowski leider nicht dabei sein. Sie hat für uns einen schriftlichen Beitrag verfasst, den wir gerne hier zur Verfügung stellen:
Den Titel von Esther Kreitmann: „Deborah, Narren tanzen im Ghetto“ benutze ich, mich und andere warnend, seitdem ich ihr Buch 1984 gelesen und verstanden habe. Diese Lektion bewusst zuspitzend versehe ich sie mit dem zusätzlichem Adverb: Nur „Narren tanzen im Ghetto“.
Esther Kreitmann, die unbekannte Schwester des berühmten Bruders Isaac Bashev Singer, hatte keinen Grund, anders als er, das „stetl“, das jüdische Ghetto, (vor 1933!) auch in jiddisch schreibend, so herrlich zu glorifizieren wie er und seine Brüder. Sie war zwar das Modell für ihres Bruders, später so ungemein erfolgreichen, mit Barbara Streisands verfilmten Roman YENTL, doch erwähnte der Romancier seine schreibende Schwester Esther nie als Kollegin, wie seine beiden anderen schreibenden Brüder als von ihm zu rühmende Kollegen. Sie war getrieben von der Antwort ihres gemeinsamen Vaters auf ihre Frage: „Was soll aus mir werden“? „Natürlich Nichts“ – war die Antwort des freundlichen Rabbis, dessen sie, extra für sie versteckten Bücher umso begieriger las. Diesem ‚Nichts‘ im Stetl’-Leben wollte sie entkommen und verschrieb sich glühend den Versprechungen der sozialistischen Befreiung.
Für sie blieb das ‚Nichts‘ noch vor der Shoa eine Warnung, der sie durch eine, wenn auch arrangierte Ehe nach Antwerpen zu entfliehen hoffte, während die Brüder Singer das „stetl“, auch noch, nach ihrer rechtzeitigen Emigration in die USA als Utopie in ihrer Erinnerung treu blieben. Diese Einführung soll verdeutlichen, dass das Ghetto in der Erinnerung – im Gegensatz zur Schwester, die Singer Brüder idyllisch zurückholte und die Lesenden immer noch mit der Zeichnung der so liebevoll beschriebenen ‚Luftmenschen‘ des „stetls“ bezaubert. Deren Welt ist aber nicht versunken, wie es oft im Feuilleton heißt, sondern ermordet worden.
Ähnlich die Welt der Homosexuellen und deren Subkultur in Berlin vor 1933, nicht versunken ist, sondern deren ‚Tanzende auf dem Vulkan‘ vernichtet worden sind. Ob das Ghetto historisch bedingt eingelebt, wie im früheren „stetl“ der Ostjuden oder in Ermangelung von Freiheit subkulturell von Homosexuellen erwählt scheint, solange es keine Selbstbestimmung, Durchlässigkeit und Rechte und Schutz gibt, vertut sich in der Narretei. Deren Extravaganz dient entweder zur Unterhaltung und Geschmack oder als Sündenbock nach Bedarf der Übelnehmenden.
Wie queer ist Intersectionality?
Eigentlich – 50 Jahre nach STONEWALL, könnten die old school queers der westlichen Welt zufrieden sein, dieses Jubiläum, wenn noch klaren Geistes einfach feiern zu können – wenn nicht eine Sündenschuldfrage von innen, der Vorwurf des Pinkwashing, ihren doch wunderbaren Erfolg durch verfälschende Geschichtsschreibung mies machen würde. Der heute gängige intersektionale Vorwurf, dass, wenn nicht alle vom Kapitalismus und Rassismus befreit worden sind, niemand befreit ist, ist so wahr wie eine unverbindliche Sonntagspredigt von einer erhöhten Kanzel aus, die gerne das Jenseits beschwört. Und deswegen bedienen sich diejenigen der kostenlosen Phraseologie, um sich in euphorischer Geschichtsignoranz progressiv zu inszenieren, ohne sich den Anforderungen progressiven Denkens und Handelns konkret zu stellen. Warum haben all die Gender and LGBTI Studies es überall ermöglicht, Studierte die Fakten nicht wissen zu lassen? Sowohl in den USA als auch in Westeuropa waren die Hoffnungen der 60er Jahre auf eine Beendigung des Kalten Krieges und auf eine grundsätzliche Veränderung der Weltgesellschaft aus. Das ließ sie später als eine ‚ganze‘ Generation ‚revolutionärer‘ 68er erscheinen (was nicht stimmt). Allerdings in der schönen Ballade „Tangled up in Blue“, besang Bob Dylan – schon 1975 rückblickend jene Zeit genauso romantisierend, so schön – zu schön: „There was music in the cafés at night And revolution in the air“

Queer Thinking im Sommer 2019 (Foto: E2H)
Nachdem insbesondere 68erInnen realisierten, dass keine Revolution, selbst mit einem integrativen Marxismus (Klasse, Rasse, Geschlecht), die Welt mit einem revolutionärem Schlag aus den Angeln hebt, begann die Theoriearbeit im und zum Konkreten hin. Alle emanzipatorischen Modernisierungsversuche einer Weltverbesserung sind nach den Erfahrungen mit dem Faschismus und Stalinismus erfolgt und lagern in unendlichen Bibliotheken und Archiven dieser Welt. Das Wissen um die Unterdrückung von Klasse, Rasse Geschlecht, hatte so lange keinen befreienden Einfluss auf die Lebenspraxis der Menschen, solange sie die Unterdrückung, wenn auch mit geballter Faust oder deprimiert von den anderen im Ghetto der Zuweisung isoliert/e. Die Verhältnisse der Unterdrückung, begannen sich zu bewegen, weil einzelne Menschen wagten, sich daraus zu bewegen und zugleich die Aufmerksamkeit danach mit Gleichen für die Öffentlichkeit zu organisieren verstanden, wie z.B. die Frauen feministisch und Lesben und Schwule, beinahe zeitgleich ihre Differenz und Abweichung zunächst ‚nur‘ für eine Dekriminalisierung demonstrierend.
Es gibt einen wieder mehr religiösen Hass gegen Frauen und Queers.
Die Civil Rights Bewegung der Schwarzen in den USA war das Modell des Versuchs einer zivilisierenden Demokratie, die deren Versprechen teilend und geltend für sich und andere, bewußt auf die Probe stellte. Rosa Parks handelte gezielt am 1.12. 1955, in Montgomery/Alabama, als sie sich weigerte, den Platz im Bus für einen Weißen frei zu geben, um sich‚ ‚legal‘ nach hinten in den Bus segregieren zu lassen. Ihre Aktion war mit der lokalen Busboykott Initiative abgesprochen, um daraus den Skandal zu machen, der es war. Erst ein Jahr später- nach der ersten Massenmobilisierung der civil rights Bewegung hat der US-Gerichtshof diese Praxis der Bussegegration als nicht verfassungskonform verboten. Noch immer aber gibt es Rassismus, eine wieder zunehmende Reichenschere gegen die Armen inter/national und einen wieder mehr religiösen und antiimperialistischen (?) Hass gegen Frauen und Queers. Der Welt geht es nicht nur klimatisch nicht gut, weder eine Weltrevolution ist dagegen vorstellbar, noch eine Weltordnung entwickelt. Aber bleiben wir bei dem, was wir leisten können, bei Analyse und Kritik.
Postmoderne Linke im postmodernen Westen neigen dazu, das Weltversagen im Großen, aber auch im Kleinen, allein dem Westen, im Bewusstsein von Critical Whiteness und Antikolonialismus anzulasten. Doch warum haben die Kämpfe und Erfolge der Frauen und LGBTIQs um Gleichheit, im Westen zu mehr Freiheit geführt als im AntiWesten der Ideologien oder gar Religionen? Critical Whiteness und Antikolonialismus, so nötig es ist, deren Auswirkungen zu erforschen, ersparen nicht das Nachdenken, warum allein die moralische Selbstanklage im Westen nicht von Ignoranz weiß wäscht, sondern denjenigen, die sich in militanter Selbstgefälligkeit darin beschränken, das immer Gleiche allgemein anzuklagen, ohne die Geschichte genauer studieren zu wollen, uns Narren gefährdet, diese zu wiederholen.
Es gab und gibt keinen selbstverständlichen Fortschrittsprozess
Um es ganz deutlich zu machen, die von der postmodernen intersektionalen Kritik behauptete monothematische Verengung z.B. des Feminismus oder der Gay Liberation war bereits eine Folge der dogmatisch gescheiterten revolutionären Hoffnung auf eine Allerweltserlösung. Ihr heutiger intersektionaler Vorwurf ist sowohl historisch als auch wissenschaftstheoretisch nachweisbar falsch. Es gab und gibt keinen selbstverständlichen Fortschrittsprozess. Nicht zu vergessen, ist, dass nach dem feministischen Aufbruch in Deutschland 1968, mit Helke Sanders Rede an die SDS-Genossen, einige der feministisch angeregten Frauen es wieder vermeintlich ‚radikaler‘ mit einer militanten Revolutionierung in und um die RAF herum versucht haben. Das hat, dem Feminismus sei Dank, die Frauenbewegung nicht gehindert, weiter zu gehen.
Auch die unmittelbare, international ausstrahlende Gay Power Bewegung nach Stonewall 1969, hält sich im Rückblick 50 Jahre später intersektional zugute, bereits einen Monat nach der Stonewall Rebellion, mit den ersten CSD Marsch mit der GLF (Gay Liberation Front), revolutionäre Flagge gezeigt zu haben. Das geschah in der erklärten Allianz mit allen anderen Befreiungsbewegungen jener Zeit, wie mit denen gegen den-Vietnam Krieg, mit den Black Panthers gegen Rassismus und in ‚sozialistischer‘ Solidarität mit Kuba, wo allerdings die Gays in Lagern zur Umerziehung kaserniert wurden. Deswegen kam es schon 6 Monate nach Stonewall nach erheblichen Auseinandersetzungen zur Abspaltung der GAA (Gay Activists Alliance) von der GLF. Silvia Riviera und Marsha P. Johnson, die beiden nach eigenem Verständnis ‚gay transvestites‘ und nun zu ‚Heiligen‘ der Stonewall Rebellion erklärten Ausnahmeerscheinungen, wurden Mitglieder der GAA, nachdem sie 1970 S.T.A.R. (Street Transvestite Action Revolutionaries) gegründet hatten, die wie die GAA vor allem Rechtssicherheiten für alle GAYS, wie in einem Gesetzentwurf, SONDA, Sexual Orientation Non Discrimination Act für sich ‚sofort‘ durchsetzen wollten.
Der Wunsch nach der Abschaffung der Geschlechter
Auch die Lesben in der Gay Liberation Front, verstanden sich als Feministinnen und engagierten sich bei NOW ( National Organisation of Women). Sie traten dort als „Lavender Menace“ ( Lila Übel) auf, als z.B. Betty Friedan, Rita Mae Brown von der radikal lesbischen Gruppe: The Furies, aus NOW ausschließen wollte. Trotz populären Wissens und nur einigen Beispielen über all diese Kämpfe und Interdependenzen der sozialen Bewegungen und unendlicher, internationaler Fachliteratur, wissen die jungen Adept_innen der Gender und Queer Studies nichts davon. Schlimmer noch: sie deklarieren eine Art ideologische Erbsünde des Feminismus der 2. Welle nach 68 und werfen sowohl diesen Feministinnen und selbst auch den Lesben und Schwulen und Transen gender-konformes Verhalten vor. Viele von ihnen wünschen sich nichts mehr die Abschaffung der Geschlechter.
GeschlechtsIdentitäten verunmöglichen mit Sternchen und Unterstrichen das Lesen und Verstehen
Ironischerweise sind die heute intersektional Auftrumpfenden nicht nur geschichtsignorant. sondern praktizieren genau das Gegenteil ihrer gender non-konformen Beschwörungen. Aus dem einst queeren Bedürfnis von Lesben, Schwulen und Transen, sich fluide individualisierend, den hetero-normativen Be-und Verurteilungen der Mehrheitsgesellschaft zu entziehen und sie gar freundschaftlich gay, wenn möglich einzubeziehen, entwickelt sich ein immer weiter ausdehnendes Lexikon der korrekt zu bezeichnenden und untereinander abgrenzenden GeschlechtsIdentitäten, die mit Sternchen und Unterstrichen das Lesen und Verstehen verunmöglichen. Sowie im Gotha, dem deutschen Adelsverzeichnis wird eine alle Aufmerksamkeit verschlingende Bedeutungshuberei betrieben, die dazu dient, sich gegenseitig einzuordnen, um unter sich zu bleiben. Um diese Codierung zu verstehen, muss man sich tatsächlich auf diese Art von Queer Studies beschränken.
Es könnte denen, die sich nicht ständig nur mit sich selbst beschäftigen wollen, eigentlich egal sein, was in Subkulturen als unterhaltsam gilt, aber wundersamerweise hat es genau diese Exklusivität geschafft, alles ehemals Queere über deren Schon- und Spielräume hinaus transfixieren zu wollen.
Das was als inklusiv und genderneutral propagiert wird, entwickelt sich zwanghaft zum Gegenteil von kommunikativer Annäherung. Eine permanente Ausstellung des Ichs wird abgefragt, um anstatt mit Einstellung, auch andere und anderes zu erkunden. Könnte man Verschwörungstheorien ernst nehmen, müsste man diese Art von Entpolitisierung tatsächlich als Volltreffer interessierter Kräfte bezeichnen, denen nichts Besseres passieren konnte, als Frauen, Lesben, Schwule und Transen so zu dekonstruieren, dass es sie faktisch als politische Kräfte mit Ansprüchen gar nicht mehr gibt. Die Beauftragen, für die wir uns einst eingesetzt haben, werden bald abgewickelt werden und niemand wird sie vermissen. Es vereinte einst gerade der beste Geist einer positiven Separität wieder miteinander, was die autonome Frauen- und Lesbenbewegung und Schwulen- und Transbewegung zwischendurch trennte, weil es gerade darum ging, sich auf den Stand von Gemeinsamkeiten zu bringen.
Die Zeiten haben sich geändert, der Narretei ist genug!
Nur mit sich selber beschäftigt wird das Sprechtheater zur Vermeidung von geschlechtsspezifischen Pronomen von außen entweder ganz liberal nicht ernst genommen, von rechts attackiert oder lächerlich gemacht. Aber das wäre noch nicht das eigentliche Problem, sofern der politischen Raum der Auseinandersetzung links davon nicht völlig ausgehöhlt würde. Es kommt zu Missallianzen, die einen mehr als staunen machen. Die Intersektionalen auf internationaler Bühne grüßen und solidarisieren sich wie jüngst beim antikommerziellen Queer Liberation March in NY zu 50 Jahre Stonewall mit den palästinensischen Brüdern und Schwestern und bekommen dafür Applaus. Wollen die LGBTIQAs nicht wissen und wenn warum nicht, dass laut aktuellem BBC ArabBarometer, die Palästinenser in der Westbank die absolut geringste Akzeptanz von 5% für Lesben und Schwule im Vergleich zur gesamten arabischen Welt äußern. Und die Zustimmung ist in den anderen arabischen Ländern, wie man weiß, ebenso furchterregend gering bis tödlich für die Gays. Ist das der neue intersektionale Internationalismus?
Was müssen das für Zeiten gewesen sein als Stop Making Sense ein internationaler Hit war. Die Zeiten haben sich geändert, der Narretei ist genug. Start Making Sense!
Halina Bendkowski, (agentin für feminismus & geschlechterdemokratie), hat als Mitglied der HFM = Homosexuelle Frauengruppe Münster 1975 ! gegen die Stadt Münster einen Prozess geführt, verloren und mit Widerspruch 2 Jahre später gewonnen. Es ging um die Erlaubnis für die HFM, einen Informationsstand in der Fußgängerzone aufzustellen. („die Stadt kann derartige Informationen auf stadteigenen Plätzen nicht zulassen“) 1999 gehörte sie zu den Gründungsfrauen des L/SVD, für den sie 4 Jahre lang im Bundesvorstand für die Erreichung des Lebenspartnerschaftsgesetzes aktiv war, insbesondere in Auseinandersetzung mit ablehnenden Kirchen und Feministinnen, die gegen die Ehe von Homosexuellen waren. Nicht nur diese Erfahrungen begründen ihren Titel: „Nur Narren tanzen im Ghetto“
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